Im InterviewCarsten Roemheld, Fidelity

„Wir laufen in ein Zeitalter der Knappheiten hinein“

Kapitalmarktexperte Carsten Roemheld von Fidelity spricht im Interview der Börsen-Zeitung über das Phänomen Nvidia, über eine historische Entscheidung der EZB und über Sektoren, die nach dem KI-Boom als nächste das Potenzial haben, die Aktienmärkte anzuführen.

„Wir laufen in ein Zeitalter der Knappheiten hinein“

Im Interview: Carsten Roemheld

„Wir laufen in ein Zeitalter der Knappheiten hinein“

Aktienstratege erwartet Korrektur bei Tech-Größen – Umfeld für Small und Mid Caps bleibt schwierig – Rohstoff- und Gesundheits-Titel interessant

Kapitalmarktexperte Carsten Roemheld von Fidelity spricht im Interview der Börsen-Zeitung über das Phänomen Nvidia, über eine historische Entscheidung der EZB und über Sektoren, die nach dem KI-Boom als nächste das Potenzial haben, die Aktienmärkte anzuführen.

Die meisten großen Aktienmärkte haben in den letzten Monaten eine Rally hingelegt, wie es sie in der Geschichte etwa des Dax nur eine Handvoll Mal gab. Hat Sie das überrascht?

Form und Größenordnung der Rally haben mich schon überrascht, zumal sie nicht unbedingt fundamental begründet ist. Vor allem in Europa, wo die Situation vielleicht noch etwas schlechter als in den USA ist. In den USA gab es durch größere Stimulierungspakete und Fiskalprogramme einen größeren Schub für die Wirtschaft, der sich jetzt auch in Form von deutlich besseren Wirtschaftsdaten äußert.

Und das hat die Märkte angetrieben?

Das Hauptkriterium für diese letzten Monate oder die letzten anderthalb Jahre war die große Liquidität, die auf die Märkte eingeströmt ist, über die staatlichen Maßnahmen, die dann ihre Anlagemöglichkeiten gesucht haben. Und das in einem Umfeld steigender Zinsen. Einerseits wollen die Zentralbanken ja Inflation bekämpfen und versuchen, das durch steigende Zinsen hinzubekommen, andererseits wird ihnen durch diese große fiskalische Einflussnahme der Regierungen einiges entgegengesetzt, was die Bekämpfung schwierig macht.

Und wie geht es nun weiter?

In den Märkten ist nach wie vor eine große Menge an Liquidität und wir haben auch nach wie vor Rekordsummen im Geldmarktbereich. Es sind aber ein paar Unsicherheiten hinzugekommen, geopolitisch besonders im Nahen Osten, wo es noch brisanter geworden ist. Ob es das mit der Rally endgültig war? Das kann man natürlich nie mit Sicherheit sagen, weil so viel Geld an der Seitenlinie steht. Aber der Zeitpunkt für eine Korrektur wäre durchaus gekommen, nachdem die Märkte in der letzten Zeit wirklich sehr deutlich nach oben gegangen sind und speziell in den USA schon Bewertungskriterien erreicht haben, die über das Maß hinausgehen, das für den Gesamtmarkt adäquat ist. In Europa und Asien ist von den Bewertungen her noch ein wenig Spielraum da, aber dafür sind die ökonomischen Bedingungen und die fundamentalen Voraussetzungen von der konjunkturellen Seite her nicht so gut.

Getrieben wurde die Rally zu einem Gutteil von Big Techs wie den „Magnificent 7“. Sind nicht auch diese Tech-Größen inzwischen ganz schön ambitioniert bewertet?

Big Tech und KI waren der große Markttreiber. Viele Unternehmen rüsten sich jetzt entsprechend aus, kaufen Server, kaufen Chips von Nvidia und das hat eine Art Sonderkonjunktur herbeigeführt und dafür gesorgt, dass gerade der US-Markt eine Zweiklassengesellschaft aufgebaut hat. Von den „Magnificent sieben“ sind faktisch nur noch fünf bis sechs übrig geblieben. Tesla ist jetzt außen vor und auch Apple hat zuletzt deutlicher nachgelassen.

Und für die anderen fünf geht es weiter aufwärts?

Sie haben sehr resistente Geschäftsmodelle und so starke Wettbewerbsbarrieren aufgebaut, dass es Anderen schwerfällt, das zu replizieren. Microsoft oder Amazon haben Jahre und Jahrzehnte gebraucht, um ihre heutige Marktposition zu erreichen. Etwas anders ist es bei Nvidia. Das Halbleitersegment ist nach wie vor zyklisch. Aber Nvidia hat sich enorme Wettbewerbsvorteile aufgebaut über die Grafikdesigns, die man vor allem im KI-Bereich benötigt. Da sind auch die Wettbewerber sehr stark auf der Verfolgungsjagd, um gleichzuziehen und dann irgendwann in Konkurrenz mit Nvidia zu treten. An diesem Punkt sind wir aber noch länger nicht. Trotzdem sind die Bewertungen ambitioniert und in einer Korrekturphase des Marktes, wie wir sie momentan erleben, dürften die Big Techs überproportional verlieren. Der Tech-Hype kann aus Liquiditätsgründen noch eine Weile weitergehen, aber ich befürchte, dass sich gerade beim Thema KI ein paar Erwartungen als zu groß und zu hoch erweisen.

Andererseits konnten Unternehmen wie Nvidia die Märkte zuletzt mehrfach positiv überraschen und die Markterwartungen um ein Vielfaches übertreffen.

Da gebe ich Ihnen völlig recht. Nvidia ist ein Phänomen, weil es mit großen Vorschusslorbeeren ausgestattet wurde und trotzdem im Nachhinein immer geliefert hat. Das KGV war am Anfang bei etwa 200 und ist dann wieder auf rund 50 zurückgekommen. Nvidia ist immer in seine Bewertung hereingewachsen. Das Unternehmen hat sich in dem „Club der Billionäre“ ganz nach vorne gearbeitet. Aber sie haben natürlich auch ein wenig Glück gehabt, dass sich diese Grafikchips, die früher nur in Spielekonsolen verbaut wurden, besonders gut für KI-Anwendungen eignen. Im Moment ist die Nachfrage nach diesen Chips so immens, dass sie ein Produkt-Update nach dem anderen bringen und für Monate ausverkauft sind.

Aber das geht nicht so weiter?

Nvidia ist in den letzten Jahren der Riesenaufsteiger der Märkte gewesen. Aber der Wettbewerb schläft nicht. Es wird eine Zeit dauern, bis Nvidia eingeholt wird. Aber dass diese Nachfrage sich so konstant weiterentwickeln wird, ist auszuschließen. Irgendwann haben alle Datencenter diese Chips. Ich traue es Nvidia zu, dass sie noch zwei, drei Quartale diese Nachfrage erfüllen können, aber die Enttäuschung wird früher oder später kommen, da bin ich sicher.

Gegenüber den Blue Chips sind die Nebenwerte zuletzt blass geblieben. Es ist nichts mehr zu sehen von der historisch bekannten Wachstumsdividende für Mid Caps. Erwarten Sie hier eine Kehrtwende?

Das wird noch einige Zeit dauern. Die Gigacaps haben den Vorteil, dass sie die aktuelle Zinssituation am kurzen Ende für ihre Cash-Bestände nutzen konnten. Sie haben viel Geld verdient, indem sie diese Cash-Bestände zu den von der Fed festgelegten kurzfristigen Zinsen von 5,3%, angelegt haben. Das ist bei Mid und Small Caps nicht der Fall, da sie nicht über große Cash-Bestände verfügen. Da wirken die höheren Zinsen viel eher negativ, so wie sie ja eigentlich auch wirken sollen. Die Fed erhöht die Zinsen ja nicht zum Spaß, sondern weil sie Wirtschaft und Inflation bremsen muss. Nach meinem Dafürhalten ist es wahrscheinlich, dass die Fed dieses Jahr überhaupt nicht mehr die Zinsen senkt, weil der Zeitpunkt rund um die Präsidentschaftswahl als zu heikel einzuschätzen ist. Und viel vorher kann sie es wahrscheinlich aus Gründen der fundamentalen Marktlage nicht begründen. Solange die Zinsen auf den aktuellen Niveaus bleiben, wird es für Small und Mid Caps schwierig bleiben.

Da schließt sich für mich direkt die Frage an: Wenn die Fed bei ihren hohen Zinsen bleibt, was ist dann mit der EZB? Könnte die das erste Mal vorpreschen und mit Senkungen beginnen?

Die Frage stelle ich mir auch ständig. Eigentlich habe ich es der EZB nicht zugetraut, dass sie ihren eigenen Weg gehen wird, ohne dass die Fed vorangeht. In der Historie gibt es nur eine einzige Phase, in der die EZB komplett losgelöst von der Fed gehandelt hat. Das war 2011, da hat sie die Zinsen angehoben, um sie dann kurze Zeit später komplett wieder herunternehmen zu müssen, weil die Eurokrise ihren Lauf genommen hat. Man kann dieses „Experiment“ daher als nicht besonders erfolgreich bezeichnen.

Trotzdem könnte sich das nun ändern?

Wenn ich die Äußerungen von Frau Lagarde richtig deute, hat sie eine Zinssenkung für Juni mehr oder weniger deutlich in Aussicht gestellt, wenn sich nichts Maßgebliches ändert. Fundamental wäre eine Zinssenkung durchaus berechtigt. Die wirtschaftliche Lage, die besseren Inflationsdaten und die Prognosen würden der EZB Recht geben.

Was könnte unabhängig von Zinssenkungen denn nach KI das nächste große Thema an den Aktienmärkten werden? Dem eigentlich eher defensiven Healthcare-Sektor trauen viele Analysten einiges zu. Rohstoffe, ist auch vermehrt zu hören. Was sind für Sie Bereiche, die interessant wirken?

Die beiden hätte ich jetzt spontan auch genannt, vor allen Dingen Letztere. Ich glaube, Rohstoffe können auch als Inflationsschutz für ein Portfolio sehr hilfreich sein. Wir erleben gerade das große Projekt der Energiewende, wir erleben große Infrastrukturprojekte, bei denen Rohstoffe eine enorme Bedeutung haben. Und wir haben in den letzten Jahren, ich würde fast sagen, dem letzten Jahrzehnt, zu wenig Geld investiert in die Rohstoffgewinnung. Die Kapazitäten sind nicht gefördert worden. Das heißt, wir haben es jetzt mit einer restriktiven Angebotssituation zu tun. Das Argument, das ich immer wieder nenne, ist: Wir laufen in ein Zeitalter der Knappheiten hinein. Diese Knappheiten werden in ganz verschiedenen Bereichen und Märkten auftreten. Das hat auch ein bisschen was mit Nationalisierung, mit Repatriierung von bestimmten Produktionsteilen oder Teilen der Produktionsketten zu tun. Ein Umbruch, der ein bisschen weg führt von der Globalisierung, die es ermöglicht hat, dass alles zu jeder Zeit günstig zu haben ist.

Und das spricht für Rohstoffe?

Ja. Jetzt haben wir auch im Energiebereich wieder Engpässe gesehen. Wegen der Straße von Hormus, durch die gut 1/4 aller globalen Ölvorräte gehen. Dazu kommt die Tatsache, dass die Opec ihr Angebot weiter unter Restriktionen hält und nicht so viel in den Markt gibt wie notwendig. Diese Verknappung von Rohstoffen führt zu Preissteigerungen.

Und Healthcare?

Das Gesundheitswesen halte ich auch für sehr interessant. Das ist ein Thema, das mit der demografischen Entwicklung einhergeht, und etwas, das im Verlauf der letzten Jahre der Tech-Dominanz an den Märkten ein bisschen untergegangen ist. Auch Infrastruktur ist sicherlich ein interessanter Bereich. Damit meine ich Energieversorgung, Gesundheitsversorgung, Transportwege. Da wird viel Geld hinfließen in den nächsten Jahren. Da sehe ich durchaus einige Gewinner.

Gewinner ist ein schönes Stichwort. Wen sehen Sie denn als Gewinner, wenn uns in den USA ein zweites Mal Donald Trump blüht?

Wir planen mit verschiedenen Szenarien. Schon in seiner ersten Amtsperiode hat Trump die Regulierung zurückgefahren. Das ist ein Thema, das bei den Republikanern nicht so weit oben auf der Agenda steht. Das würde insbesondere den Finanzsektor betreffen. Die großen Banken würden davon profitieren. Ob das sinnvoll ist, ist eine andere Frage. Wir haben ja vor einem guten Jahr eine Bankenkrise in den USA gesehen, die auch damit zu tun hatte, dass Teile der Regulierung eben nicht ganz so restriktiv waren in dem betroffenen Bereich.

Weitere Gewinner?

Klassischerweise zählen dazu auch fossile Brennstoffe, Energieversorgung. Trump will ja keine Energiewende, er will weiter das, was da ist – Öl, Gas – fördern. Auch der klassische Automobilbereich, die amerikanischen energieverschwendenden großvolumigen Fahrzeuge, würden vielleicht eine kleine Renaissance erleben.

Und auf der Verliererseite?

Im Umkehrschluss alles, was mit grüner Energie zu tun hat. Alternative Energiegewinnung ist für Trump kein Thema. Aber auch der Tech-Bereich könnte eher negativ betroffen sein. Da hat Trump ja schon öfter mal seinen Unmut geäußert. Das hat auch was mit persönlichen Beziehungen zu tun. Mit einigen CEOs der großen Tech-Companies. Aber die Strategie, auf die Positionierung eines US-Präsidenten zu setzen, kann auch in die Hose gehen.

Erklären Sie das!

Wenn ich auf Trumps erste Amtszeit zurückschaue, dann ist gerade der fossile Sektor deutlich nach unten gegangen. Der Ölpreis hat im Verlauf seiner Amtszeit einen Tiefpunkt erreicht und die Werte drumherum haben alle sehr negativ abgeschnitten. Genau umgekehrt lief es dann bei Biden. Plötzlich sind die grünen Technologien eingebrochen und fossile Brennstoffe aufgrund vieler Krisen nach oben gegangen, während unter Trump auch die alternativen Energien liefen, weil die Nachhaltigkeitsbewegung da gerade weltweit sehr stark aufkam. Insofern rate ich grundsätzlich davon ab, eine Positionierung im Portfolio nur auf den Ausgang einer Wahl auszurichten.

Glänzen konnten in den vergangenen Monaten und im Vergleich zu anderen Emerging Markets Indien-Portfolios. Überwiegt für Sie hier weiterhin das Potenzial oder schreckt die mittlerweile hohe Bewertung ab?

Teilweise ist Indien sogar noch höher bewertet als die USA. Aber eine Bewertung als solches ist nicht der Grund, warum Märkte weiterlaufen oder warum sie aufhören, weiterzulaufen. Kurzfristig gesehen ist Indien an einem Bewertungspunkt angelangt, der ambitioniert ist. Wenn man sich aber die Entwicklung Indiens von der volkswirtschaftlichen Seite her anschaut und wenn man sich anschaut, welches Potenzial in Indien vorliegt, dann muss man sagen: Auf längere Sicht ist das nach wie vor ein extrem attraktiver Markt. Indien ist an der Stelle, wo China – was das BIP angeht – 2006, 2007 war. Wir sind also einige Jahre, um nicht zu sagen Jahrzehnte, hinter dem, was in China passiert ist. Und das ist die Perspektive, die man als Investor einnehmen sollte, der längerfristig seine Wachstumschancen sucht. Wenn man sich die Wachstumsprofile für das laufende Jahr und für das nächste Jahr anschaut, ist Indien immer noch ganz weit oben an der Spitze.

Indien bleibt also interessant?

Wenn die politischen Stellschrauben weiter auf Grün sind, sprich, wenn Modi die Chance hat, nach seiner Wiederwahl in diesem Jahr die Reformen weiter voranzutreiben, dann glaube ich, dass Indien trotz einer hohen Bewertung des Aktienmarktes für Investoren ein guter Markt sein wird, der seine Dynamik noch weiter ausbauen kann. Allerdings sind solche Märkte immer anfällig, gerade im aktuellen Marktklima, wo es förmlich nach Korrekturen schreit. Da werden die hohen Bewertungen natürlich als Erstes abgestraft. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nach wie vor längerfristig ein extrem attraktiver Markt ist.

Zur Person: Carsten Roemheld ist seit 2014 Kapitalmarktstratege bei Fidelity International. In dieser Funktion spricht er mit Medien, im TV und Radio über aktuelle Trends am Kapitalmarkt, Zentralbankpolitik oder wichtige makroökonomische Einflussfaktoren und deren Auswirkungen auf die globalen Finanzmärkte. Er tritt als Kapitalmarktexperte in diversen Börsenformaten auf und hat neben eigenen Blogs und Podcasts ein sehr erfolgreiches Webinar-Format etabliert, das alle 14 Tage für Kunden live gestreamt wird. 

Das Interview führte Tobias Möllers.