Dividendenreport 2023

Der Schweizer Dividendensegen weckt Zweifel

Die wertvollsten Börsenfirmen der Schweiz geben in diesen Tagen und Wochen Gewinnanteile in Höhe von 71 Mrd. sfr an ihre Aktionärinnen und Aktionäre weiter. Doch diese können mit der Gesamtrendite ihrer Unternehmen nur teilweise zufrieden sein.

Der Schweizer Dividendensegen weckt Zweifel

Dividendenreport 2023

Der Schweizer Dividendensegen weckt Zweifel

Die wertvollsten Börsenfirmen der Schweiz geben mehr als 70 Mrd. sfr an ihre Eigentümer weiter. Richtig zufrieden sind diese damit trotzdem nicht.

Von Daniel Zulauf, Zürich

Die Aktionärinnen und Aktionäre der 29 wertvollsten Firmen an der Schweizer Börse belohnen sich reichlich. 71 Mrd. sfr ist die Summe, die sie sich in diesen Tagen und Wochen an den Generalversammlungen ihrer Unternehmen selbst zusprechen werden. 70% dieser Summe repräsentieren direkte Gewinnausschüttungen in der Form von Dividenden (vgl. Grafik). Den Rest (21 Mrd. sfr) lassen sie sich durch Aktienrückkäufe indirekt zukommen. Das ist die eindrückliche Bilanz des Dividendenreports der Börsen-Zeitung.

Welchen Anteil Schweizer Pensionskassen, Privatanleger und natürlich auch die im Aktionariat vieler Firmen immer noch stark präsenten Unternehmerfamilien an diesem Reibach haben, lässt sich nicht präzise feststellen. Klar ist nur: Er ist sehr bedeutend. Die große Dividendenkraft ist nicht zuletzt das Ergebnis des immensen Kapitalstocks, den die Firmen im Laufe vieler Jahrzehnte aufgebaut haben. Sie haben mit ihren Gewinnen Investitionen im Inland, vor allem aber auch im Ausland finanziert, aus denen nun reichlich Gewinnanteile zurückfließen und damit viel zum jährlichen Zahlungsbilanzüberschuss des Landes von 61 Mrd. sfr im Jahr 2023 beitragen.

Der Zukunftsglaube hat gelitten

Doch die Finanzkrise 2008 und die nachfolgenden Krisen haben dem Zukunftsglauben geschadet. Das zeigt auch der aktuelle Report. Während die Dividendenausschüttungen (ohne Aktienrückkäufe) seit 2010 um 76% zugenommen haben, sind die Gewinne nur um 45% gestiegen. Von den knapp 90 Mrd. sfr, welche die 29 im Swiss-Leader-Index repräsentierten Firmen 2023 als Gewinn ausweisen konnten, flossen fast 80% über Dividenden und Aktienrückkäufe an die Aktionäre zurück. Diese Ausschüttungsquote liegt weit über dem historischen Durchschnitt. „Der Optimismus der Firmen von einst ist seit der Finanzkrise nicht mehr zurückgekehrt“, sagt Anastassios Frangulidis, Chefökonom der Bank Pictet. „Der fehlende Zukunftsglaube der Unternehmen bremst das Potenzialwachstum der Schweizer Volkswirtschaft“, sagt er – eine Feststellung, die sich für viele alte Industrieländer machen lässt.

Die Aktionäre können mit ihrem jährlichen Dividendensegen deshalb nur bedingt zufrieden sein. Addiert man zu den Gesamtausschüttungen (Dividenden plus Aktienrückkäufe) den Börsenwert, ergibt sich für die 29 beobachteten Unternehmen für 2023 zwar immerhin noch eine Zunahme der Gesamtrendite von 3,3%. Doch bei zehn Unternehmen fällt diese negativ aus (vgl. Grafik). In manchen Fällen liegt der rückläufigen Gesamtrendite eine im Vergleich zur Gewinnentwicklung stark überproportionale Korrektur des Börsenwertes zugrunde. Das gilt etwa für den Pharmakonzern Roche, der 2023 rund 7% weniger verdiente als im Vorjahr, an der Börse aber 18% an Wert einbüßte. Der Markt befürchtet schon seit geraumer Zeit, dass Roche bei wichtigen Therapiegebieten den Anschluss an die Konkurrenz verpassen könnte. Eklatant ist die Situation von Nestlé. Der Konzern verdiente 2023 gut ein Fünftel mehr als im Vorjahr, wurde aber von der Börse um 10% tiefer gestellt. Darin kommen die Zweifel der Investoren zum Ausdruck, dass das Unternehmen ohne die kräftigen Preiserhöhungen der jüngsten Zeit nicht mehr an die Wachstumsraten aus früheren Jahren herankommen könnte.

Aristokraten auf Zeit

Thomas Meier, ein Fondsmanager beim Vermögensverwalter Mainfirst in Frankfurt, der sich auf Anlagen in Aktien dividendenstarker Firmen spezialisiert, zählt Nestlé und andere große Schweizer Konzerne zur Klasse der „Dividendenaristokraten“. Das sind Firmen, die sich über viele Jahre hinweg den Ruf zuverlässiger Dividendenzahler erarbeitet haben. Doch Meier warnt, diese Art von Aristokratie gelte nicht für die Ewigkeit: „Der Markt kann die Unternehmen schnell in eine tiefere Schicht abstufen, wenn Befürchtungen aufkommen, dass die Historie abbrechen könnte.“ Es gibt auch Spezialfälle wie den der UBS, die dank der CS-Übernahme den ausgewiesenen Gewinn mehr als verdreifacht hat, an der Börse aber „nur“ knapp 50% zulegen konnte. Hier sind sich die Investoren noch nicht im Klaren, wie viel von diesem CS-Gewinn letztlich bei ihnen ankommen wird. „Die Zukunft der UBS verspricht viel Spannung“, sagt Meier. „Der Markt ist generell skeptisch, was die Dividendenpläne großer Banken anbelangt.“

Während die Unternehmen ihren Aktionären 2023 eine nur mäßige Steigerung der Gesamtrendite bieten konnten, sind die Cheflöhne um durchschnittlich knapp 2% gesunken. Was vernünftig und maßvoll tönt, kann im Einzelfall aber ganz anders aussehen. So mussten im vergangenen Jahr nur fünf CEOs die schlechtere Leistung mit einer Lohneinbuße bezahlen, allen voran der vormalige Julius-Bär-Chef Philipp Rickenbacher, der nach den Kreditverlusten mit dem österreichischen Immobilien-Tycoon René Benko auch seinen Job verlor. Der Gegensatz dazu ist Nestlé-Chef Mark Schneider, der 2023 für weniger Leistung mehr Gehalt bezogen hat.

Shareholder Value für immer?

Trotz spektakulärer Ausreißer wie Swiss-Re-Chef Christian Mumenthaler oder Novartis-Chef Vasant Narasimhan, die beide für eine überschaubare Leistungssteigerung um die 90% mehr Lohn einkassierten, lässt sich in vielen Fällen ein deutlicher Zusammenhang zwischen Lohn und Leistung erkennen. Aber wie stellt sich dieser Zusammenhang in einer langfristigen Perspektive dar? Felix Bühlmann, Soziologieprofessor und Eliteforscher an der Universität Lausanne, sagt: „Verändert hat sich das, was in breiten Kreisen von Wirtschaft und Gesellschaft als Leistung verstanden wird. Konzepte wie die Unternehmensrendite, die sich am Börsenwert und an den Ausschüttungen an die Aktionäre orientieren, haben in den 1950er Jahren noch gar nicht existiert.“

Erst seit den 1990er Jahren dominiere das Konzept des Shareholder Value, der die Unternehmensleistung auf den Aktionärsnutzen reduziere, sagt Bühlmann. „Bis in die 1970er Jahre herrschte in den meisten Ländern eine Art Familienkapitalismus vor, in dem die Leistung von Unternehmen in einem breiteren Kontext gesehen wurde. Ganze Städte und Regionen lebten fast vollständig von einem einzigen Unternehmen. Dessen Leistung war der Wohlstand der ganzen Region.“

Bühlmann erwartet Veränderungen: „Ich vermute, dass mindestens in den alten Industrieländern das Zeitalter der Großunternehmen zu Ende geht. Die Unternehmen werden kleiner und spezialisierter, was den Begriff von Leistung verändern, aber auch den Zusammenhang zwischen Cheflöhnen und Leistung verstärken könnte.“ Die Schweiz mit ihren internationalen Konzernen bietet ein ideales Feld zur Erforschung solcher Entwicklungen.